Das britische Problem und seine Bedeutung für Europa

Im Hinblick auf das für 2017 angekündigte Referendum ist ein „Brexit“ – samt der desaströsen Konsequenzen – in greifbare Nähe gerückt

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Introduction

+++ Die englische original Fassung dieses Artikels steht hier zur Verfügung +++

Bereits 2013 äußerte der britische Premierminister David Cameron für einen erneuten Wahlsieg die Absicht, die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens neu zu verhandeln, um dann die Briten per Volksentscheid zwischen diesem „New Deal“ und einem EU-Austritt entscheiden zu lassen. Mit den Parlamentswahlen 2015 naht auch die Gefahr eines möglichen British Exit – oder kurz Brexit.

Obwohl im Falle eines britischen EU-Austritts viel auf dem Spiel steht, haben die übrigen Mitgliedsstaaten bisher gezögert, sich in der britischen Debatte zu Wort zu melden. Die neue ECFR-Publikation „Das britische Problem und seine Bedeutung für Europa“ beschäftigt sich mit der Frage, wie die europäischen Partner Großbritanniens der pro-europäischen Position in der öffentlichen Debatte zur Seite stehen können.

ECFR-Direktor, Mark Leonard, vertritt folgende Position:

  • Die Gefahr eines Brexit wird nicht von einer euroskeptischen Öffentlichkeit, sondern von europhoben nationalen Eliten vorangetrieben, die Migrationsfragen mit Europa gleichsetzen. Die britischen Europhobiker verfügen dabei über einen mächtigen intellektuellen Kreis von reichen Unterstützern und Befürwortern in den Medien, im britischen Unterhaus und sogar in der britischen Regierung. Doch der Aufstieg von UKIP beunruhigt auch viele Menschen, dementsprechend ist die Unterstützung für eine EU-Mitgliedschaft bei einem Fünfjahreshoch (eine Befragung hat jüngst ergeben, dass 45 Prozent der Briten in der EU bleiben wollen, während 35 Prozent der Befragten den Austritt vorziehen).
  • Die negativen Folgen einer solchen Spaltung wären sowohl für die EU als auch Großbritannien beträchtlich: Zusätzlich zum Verlust aller Vorteile vom Europäischen Binnenmarkt auf britischer Seite würde auch die EU ein Stück kleiner, schwächer und ärmer dastehen. Das Vereinigte Königreich macht knapp 12,5 Prozent der Bevölkerung der EU, 14,8 Prozent ihrer Wirtschaft und 19,4 Prozent ihrer Exporte (außerhalb des EU-Binnenmarktes) aus. Mit dem Wegfall von Großbritannien als wichtigem Handelspartner und Exportmarkt würde vor allem Deutschland die Auswirkungen eines Brexit zu spüren bekommen. Zusätzlich verzeichnet Großbritannien eine defizitäre Handelsbilanz i.d.H.v. 28 Mrd. Pfund, ist Heimat von rund 2 Mio. Staatsbürgern anderer EU-Mitgliedsstaaten und ist einer der größten Nettobeitragszahler zum EU-Haushalt (verantworlich für 12 Prozent des Gesamtbudgets der EU).
  • Anderer EU-Mitgliedsstaaten stehen viele Möglichkeiten offen, beim Verhindern des britischen EU-Austritts zu helfen. Sie sollten die britische Regierung überzeugen, sich an generellen Reformen zu beteiligen anstatt auf Sonderbehandlungen zu bestehen.

Mark Leonard: “Ein Brexit wäre für die EU noch schädlicher als ein Grexit. Es könnte eine Desintegrationswelle verursachen und die Verringerung von Europas Einfluss auf der internationalen Bühne beschleunigen.

Einige Leute haben gesagt, dass Großbritannien ahnungslos aus der EU heraus schliddere. Doch die Wirklichkeit ist eine andere: nur eine kleine europhobe Elite will die EU verlassen. Wie die amerikanischen Neokonservativen, die auf den Angriff von Irak durch den US gedrängt haben, verfügen auch Großbritanniens Europhobiker über einen mächtigen intellektuellen Kreis, reiche Unterstützer und Befürworter in den Medien, im britischen Unterhaus und sogar innerhalb der britischen Regierung.

Obwohl es an den britischen Bürgern liegt, die Entscheidung über Großbritanniens Verbleiben in der EU zu fällen, kann der Rest der EU einen Keil zwischen die Europhobiker und die britische Öffentlichkeit treiben, in dem man die EU in ihrem Umgang mit dem Migrationsdruck reformiert und in Großbritannien mit Eliten und Gesellschaft eine Diskussion über eine Reform Europas einleitet.“

Mark Leonard argumentiert, dass eine europäische Reform die Debatten über Europa und Migration entkoppeln und einen Keil zwischen Großbritanniens agnostische Öffentlichkeit und die europhobischen Eliten treiben würde. Konkret schlägt er vor:

  • Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten sollten Großunternehmen wie etwa BMW oder die Deutsche Bank, die von Großbritanniens Teilnahme am europäischen Binnenmarkt profitieren, davon überzeugen, die wirtschaftlichen Risiken eines Austritts zu thematisieren. Die Öffentlichkeit wird Warnungen, die von Arbeitgebern kommen, eher Beachtung schenken, als den Aussagen von Politikern.
  • Die Regierungschefs der EU sollten die Verbindung der Debatten um Migration und EU-Skeptizismus aufbrechen. Neben Veränderungen in den Regelungen zu Sozialleistungen, sollten sie einen ‘European Migration Adjustment Fund’ als Teil des EU-Haushaltes einrichten, aus dem lokale Behörden Mittel für die Kapazitätserweiterung von Schulen, Krankenhäuser und anderen öffentlichen Diensten, die von hohen Migrationsströmen betroffen sind, beantragen können.
  • Die Institutionen der EU sollten Großbritannien zeigen, wie es von Reformen im Bereich der Investitionen und der demokratischen Agenda, die bereits geplant sind, profitieren könnte. Eine Möglichkeit wäre es, das von Jean-Claude Juncker geplante, 315 Mrd. Euro schwere Investitionsprogramm mit den ehrgeizigen Infrastrukturinvestitionsplänen der britischen Regierung zu verbinden.
  • EU-Mitgliedsstaaten sollten dem Bild vom isolierten Großbritannien durch gemeinsame Diskussionen entgegenwirken, aus denen sie derzeit ausgeschlossen sind. Außerdem sollten sie eine umfassende Debatte über eine variable Struktur der EU anstoßen, um herauszufinden, wie die europäischen Institutionen die Euroländer unterstützen und gleichzeitig den Mitgliedsstaaten ohne Euro neues Vertrauen geben können.
  • Von außen sollte eine Welle von Stimmen über das gesamte britische politische Spektrum hereinbrechen, die die Gefahren eines Austritts Großbritanniens aus der EU thematisiert. Von Frank-Walter Steinmeier an Ed Miliband, von Anne Hidalgo an Boris Johnson, oder von Radosław Sikorski an John Bercow sollten EU-Mitgliedsstaaten die politischen Kluft zwischen der nach innen gekehrten politischen Klasse Großbritanniens und den übrigen Ländern bekämpfen.

Norbert Röttgen MdB, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag: “Ich würde sehr bedauern, wenn Großbritannien die EU verlässt. Die EU profitiert von einer starken britischen Stimme und Großbritannien profitiert von einer starken Gemeinschaft. Anstatt von kurzfristigem Kalkül geleitete, rasche Entscheidungen zu treffen, sollten wir als Europäer, in der heutigen Welt mehr denn je, enger zusammenarbeiten. Jüngste außenpolitische Ereignisse und die Rolle Großbritanniens in diesen Entwicklungen – oder gerade dessen Fehlen – sollte zur Vorsicht raten hinsichtlich seiner möglichen künftigen Rolle in der Weltpolitik, sollte es aus der EU austreten“.

John Brutton, ehemaliger irischer Premierminister: „Neben einer dramatische Schwächung der Europäischen Union, könnte ein Brexit möglicherweise zu Zoll- und Passkontrollen an der Grenze zu Nordirland führen, die der Wirtschaft in beiden Teilen der Insel massive schaden würden. Diese Publikation kommt zur rechten Zeit, denn sie erklärt den elitären Ursprung der englischen Europhobie. Wir brauchen Ideen aus allen 28 Hauptstädten der EU, wie man ihr entgegenwirken kann.

Carl Bildt, ehemaliger Premierminister und ehemaliger Außenminister von Schweden: „In Brüssel herrscht ein gewisses Maß an Gleichgültigkeit über die Risiken und Konsequenzen eines Brexit. Diese wären ziemlich katastrophal.

Zunächst sollte man sich im Klaren darüber sein, dass Brexit ein langwieriger Prozess mit allen budgetären und institutionellen Auswirkungen wäre. Anschließend müssen Verhandlungen über irgendein bisher nicht spezifiziertes, alternatives Arrangement folgen. Die Modelle Norwegens und der Schweiz sind aus mehreren Gründen so gut wie unmöglich. Es könnte ein ukrainisches Modell – DCFTA geben, aber keine Freizügigkeit und keinen Binnenmarkt.

Trotz aller Nachteile jedes dieser Modelle, besteht das Risiko, dass ähnliche Ressentiments in anderen Mitgliedsstaaten gestärkt würden. Es könnte dann sogar im Interesse der britischen Regierung liegen solche Entwicklungen zu fördern, um die Folgen der eigenen europäischen Isolation geringzuhalten. Wir könnten einen Rückfall in die Uneinigkeiten von 1958 erleben, die zur Teilung von EWG und EFTA führten.

Dies wäre nicht nur aus wirtschaftlicher Sicht ein Desaster, sondern auch wenn es um die Fähigkeit geht, die vielen außenpolitischen Herausforderungen Europas zu meistern. Speziell Russland könnte in wenigen Jahren an militärischer Macht gewinnen oder aber wirtschaftlich und sozial kollabieren – eventuell sogar beides. Nur ein halbwegs geeinter Westen, mit einer zusammenhängenden EU als einem der Grundpfeiler, hätte Chancen, ein solches Problem zu lösen. Ein fragmentiertes Europa wird ein schwächeres und gefährlicheres Europa sein.“

 

 

Der European Council on Foreign Relations vertritt keine gemeinsamen Positionen. ECFR-Publikationen geben lediglich die Ansichten der einzelnen Autor:innen wieder.