Was will Putin mit der Krim?

Die EU dient als Modell für die post-sowjetischen Staaten, muss jetzt aber zeigen, dass sie bereit ist, Verantwortung für die Zukunft einer europäischen Ukraine zu übernehmen.

Die dramatischen Entwicklungen in der ukrainischen Innenpolitik nach dem Vilnius-Gipfel Ende November 2013, waren sowohl von der EU als auch von Russland so nicht erwartet worden. Die Regierung in Moskau wurde von der Entscheidung des ukrainischen Parlaments  Präsident Viktor Janukowitsch am 22. Februar zu entlassen, überrascht.  Auch wenn Janukowitsch nie der pro- russische Präsident war, auf den Moskau gehofft hatte, war er doch zumindest ein typischer post-sowjetischer Führer: Korrupt, egoistisch, bestechlich und war so mit den Normen russischer Politik kompatibel. Mit seinem Rauswurf verlor Moskau plötzlich den zentralen Vertreter seiner Interessen in Kiew. Bis zu diesem Zeitpunkt hat Putin die Ereignisse in der Ukraine mehr oder weniger aus der Ferne beobachtet –  abgesehen von dem Druck den er auf Janukowitsch ausübte, die Situation auf dem Maidan endlich zu lösen, wenn nötig mit Gewalt. Selbst als die Außenminister Deutschlands, Polens und Frankreichs in die Ukraine reisten, und in den internen ukrainischen Konflikt eingriffen, um einen blutigen Bürgerkrieg zu verhindern, hat Putin keinen russischen Hardliner als Verhandlungspartner an den Tisch entsandt. Stattdessen schickte er den erfahrenen und umsichtigen Diplomaten, Wladimir Lukin. All dies zeigt, dass Putin die Situation ebenfalls unterschätzt hat und hoffte, dass er ausreichend Anreize und Sanktionsmittel zur Verfügung hatte, um die ukrainische Politik zu seinen Gunsten zu beeinflussen.

Die Situation änderte sich grundlegend mit der Entlassung  von Viktor Janukowitsch und der Machtübernahme durch ein pro-europäisches ukrainisches Parlament. In schwierigen Zeiten wie diesen, neigt Putin dazu, energisch und zugleich auf sehr traditionelle Art und Weise zu reagieren. Ausschließlich von Hardlinern im Kreml umgeben, hat Putin schnell verstanden, dass er Gefahr lief, Einfluss über Russlands wichtigsten Nachbarn zu verlieren und dass dieser Verlust schwerwiegende, geopolitische Folgen haben könnte. Russlands Versagen, die Ukraine durch Soft Power zu beeinflussen führte zu einem taktischen Umdenken und schließlich zum Einsatz von Hard Power. Der nächste logische Schritt in Putins Denken war, die Kontrolle über die Krim zu gewinnen, und wenn nötig, die Krim vollständig einzunehmen.  Die Krim ist der schwächste Teil der Ukraine aus Moskauer Perspektive: fast 60 Prozent der Einwohner sind ethnische Russen und die russische Schwarzmeerflotte ist in Sewastopol stationiert. Das strategische Konzept hinter Putins verdeckter Invasion ist, ein neues Transnistrien oder Abchasien auf dem Territorium der Ukraine zu schaffen, um von dort indirekt Kontrolle über das bevölkerungsmäßig zweitgrößte post-sowjetische Land ausüben zu können.

Hardliner in Putins Umfeld rechnen damit, dass eine pro-europäische Regierung in Kiew nicht nur das Freihandelsabkommen mit Brüssel unterzeichnen würde und später EU –Integrationsverhandlungen beginnt, sondern diese Regierung auch versuchen wird, der NATO beizutreten. Dies wäre eine geopolitische Katastrophe für die russische Führung. Umgekehrt könnte eine unabhängige oder von Moskau – gesteuert Krim eine wichtige Rolle bei der Beeinflussung der Politik in Kiew spielen, mit oder ohne Präsenz einer pro-europäischen Regierung. Moskau hat kein Interesse daran andere Teile der Ukraine zu annektieren – die politischen und wirtschaftlichen Kosten wären einfach zu hoch. Als direkte Reaktion auf das russische Handeln auf der Krim kam es zu großen Kursverlusten an der russischen Börse – der Rubel  verlor weiter an Wert, ebenso das wichtigste russische Unternehmen Gazprom. Ein richtiger Krieg würde noch weitaus schwerwiegendere Folgen für die russische Wirtschaft und Innenpolitik haben. Es wäre besser für Russland, wenn die Krim Teil der Ukraine bleiben würde, jedoch von Moskau gesteuert würde. Aus diesem Grund hatte Putins Berater für eurasische Integration, Sergei Glasjew,  in einem Interview Anfang Februar die Föderalisierung der Ukraine gefordert. Dies könnte seiner Meinung nach helfen, die süd-östlichen Teile der Ukraine näher an die von Russland geführte Zollunion zu bringen.

Putins strategische Entscheidung bedeutet nicht nur das Scheitern der russischen Soft Power in der Ukraine zu akzeptieren, sondern auch die Verschlechterung der Beziehungen mit der EU und den USA zu betreiben. Putin hat kein Interesse an einer fundamentalen Auseinandersetzung mit dem Westen, wie sein Versuch, die Handlungen seiner Armee völkerrechtlich zu legitimieren, gezeigt hat. Den möglichen Verlust der Ukraine jedoch, wird er nicht akzeptieren. Kiews Zuwendung zumWesten könnte seine eigene Position zu stark untergraben. Die Maidan-Bewegung hat einen Präzedenzfall auch für die russische Innenpolitik geschaffen und  das wichtigste außenpolitische Projekt in Putins dritter Amtszeit, die Eurasische Wirtschaftsunion, ausgehöhlt. Der Verlust der Ukraine käme der Aufgabejeglicher regionaler Machtambitionen gleich.

Aufgrund der Bedeutung, die die Ukraine für Europa hat, muss die EU anders reagieren, als sie es im Georgien-Konflikt getan hat. Wenn Russland hier einen Präzedenzfall schafft, dann muss dieser international sanktioniert werden. Brüssel hat ein großes Interesse an einer stabilen Regierung in Kiew und muss die Anwesenheit internationaler Beobachter vor Ort auf der Krim garantieren. Eine OSZE-Mission wäre ein erster wichtiger Schritt, um weitere Handlungen der russischen Armee zu unterbinden, jedoch muss auf verschiedenen internationalen Kanälen (VN-Sicherheitsrat, OSZE, EU-Russland-Format, NATO-Russland-Rat) bei einem Angebot für Gespräche auch Druck auf die russische Führung ausgeübt werden. Sofortige Sanktionen gegen Russland würden Putins Position weiter verhärten und die Hardliner im Kreml stärken, was das Gegenteil von dem bewirken könnte, was eigentlich erreicht werden soll. Wenn die EU Sanktionen erlassen will, dann müssen diese ernst gemeint sein und tatsächlich durchgesetzt werden. Das heißt, sie müssen Russland wirklich treffen und die EU sollte sich bewusst sein, dass sie weitreichende Konsequenzen auch für die Mitgliedsstaaten haben. Die erste Sanktionsstufe, die die Aussetzung der Verhandlungen über ein Partnerschafts- und Kooperationsabkommen und Visaerleichterungsverhandlungen umfasst, tuen eher der EU weh, als Russland. Jedoch bleibt zu bezweifeln, ob die Mitgliedsstaaten sich auf wirklich ernsthafte Sanktionen einigen können, da sie die schwache Konjunktur in der EU erneut abwürgen könnten. Dazu würde das Einfrieren wirtschaftlicher Beziehungen, von Investitionen und Energie-Exporten gehören. Neben der ökonomischen Stabilisierung der Ukraine ist es im Moment wichtig sicherzustellen, dass sich die Regierung in Kiew nicht im Stich gelassen fühlt, was leicht dazu führen könnte, dass sie auf die russischen Provokationen reagiert.

Einerseits sollte der Westen die territoriale Integrität der Ukraine bestätigen und alle gegenteiligen Versuche Moskaus und der pro-russischen Akteure auf der Krim entschieden ablehnen. Andererseits sollte es eine klare Aussage geben, dass auf absehbare Zeit eine Aufnahme der Ukraine in die NATO keine Option ist. Sie würde jeglicher Lösung des Konflikts mit Moskau im Weg stehen. Außerdem sind die Ukrainer mehrheitlich gegen solche Vorstellungen und widerspricht solch ein Ansinnen der geopolitischen Realität. Gleichzeitig muss Europa sowohl mit Kiew als auch mit Moskau über langfristige Beziehungen sprechen. Es sollte das getan werden, was in der Vergangenheit versäumt worden ist: Ein trilaterales Forum einrichten, in dem die Zukunft der wirtschaftlichen Integration der Ukraine in die EU diskutiert wird und dabei gleichzeitig die Voraussetzungen für eine Kompatibilität mit der Eurasischen Wirtschaftsunion nicht ausgeschlossen werden. Ebenso muss ein dauerhaftes Konzept für russische Gaslieferungen durch die Ukraine in die EU und politische Lösungen für die Krim als integraler Bestandteil einer souveränen Ukraine angegangen werden. Wenn die EU jetzt zögert, wird Russland die Gelegenheit nutzen, um eine neue postsowjetische Konfliktzone auf dem Gebiet der Ukraine zu schaffen. Die EU hat maßgeblich diesen Konflikt mitgeschaffen, indem sie ihr Integrationsangebot nur mit Blick auf das Mögliche in der EU entwickelt hat, aber dabei völlig die innenpolitische Dynamik in der Ukraine sowie die Bedeutung des Landes für Russland ignoriert hat. Auch aus diesem Grund haben die Mitgliedsstaaten eine besondere Verantwortung, die einer ernsthaften Diskussion über die Zukunft einer europäischen Ukraine bedarf. Hysterische Debatten über einen neuen Kalten Krieg sind nicht zielführend, da Russland jetzt noch weniger als Modell für die post-sowjetischen Staaten dient, sondern die EU. Aber nur wenn sie wirklich will. 

Der European Council on Foreign Relations vertritt keine gemeinsamen Positionen. ECFR-Publikationen geben lediglich die Ansichten der einzelnen Autor:innen wieder.